Emanje

Kurzgeschichte, 1993 erlebt von
Heinz Pack

Sie heißt eigentlich Mariam Hussein und ist die Mutter des Dorfes Himandhoo.

Nein, sie w a r einmal die Mutter des Dorfes Himandhoo... In dieser ärmlichen Hütte auf der Insel Himandhoo im Ari-Atoll hatte sie gelebt. Vierzehn Kinder hatte sie geboren. Wie viele Enkel und Urenkel von ihr noch leben, kann wohl kein Mensch mit Bestimmtheit sagen. Doch das alles ist unwichtig.

Emanje war die große Seele eben dieses Dorfes. Wenn sie erschien, verstummten die streitenden Parteien. Für jeden im Dorf hatte sie warme, liebe Worte. War jemand in Not und Sorge, schickte er nach Emanje und erfuhr von ihr aus ihrem reichen Erfahrungsschatz Anteilnahme, Trost und Hilfe. Weder der Kathib, noch der Richter Mohamed Saeed noch der Dorfpope Abubakre hätten gewagt, dieser Frau schroff zu begegnen. O nein, sie war ganz und gar nicht herrschsüchtig oder streitbar. Eher das totale Gegenteil, eine Gestalt des Ausgleichs, des Friedens, eine große Erdulderin. Jung und Alt begegneten ihr mit großer Ehrfurcht. Neben Abubakre, dem Muezin und Medizinmann des Dorfes, galt sie als Medizinfrau.


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Wenn ich an ihrer Hütte vorbeikam, traf ich sie meist davor sitzend. Ihren Augen entging nichts. Sie bemerkte mich immer und rief mir dann zu: "Komm, Heinz, setz dich, Du musst etwas trinken!" In den Limonensträuchern vor ihrer Hütte suchte,fand und pflückte sie eine reife Frucht.

Mit ihren braunhäutigen, schlanken, reich beaderten niemals kalten Händen preßte sie diese Frucht für mich aus. Und ich schaute ihr still dabei zu.

Diese Hände waren für mich ein lebendiges Gemälde. Sie sprachen Bände. Was hatten diese Hände doch alles bewirkt! In Sekundenschnelle lief vor meinen geistigen Augen ihre vermeintliche Lebensgeschichte ab wie ein Film. Ich glaube heute zu wissen, dass edle Metalle oder Steine diese Hände entehrt hätten, weil dann diese kalten Dinge, und nicht diese Hände die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen. Schmuck drückt rein äußerlich Wohlhabenheit aus, der zur Nachahmung reizt und böse Begierden weckt. Der Reichtum Emanjes war vor Dieben sicher. Er war der Grad ihrer Persönlichkeit, lag in ihrer bemerkenswerten Bescheidenheit und menschlichen Größe, wie sie es für mich ausstrahlte, was kein Brillant der Erde so vermag. Ich hatte das Leben dieser großen Seele über einige Jahre mitverfolgt, und die wundersame Wirkkraft dieser Hände am eigenen Leibe erfahren.

Heute bedaure ich sehr, dass ich diese Hände nicht fotografiert habe.

Ich bin überzeugt, dass sie so kein einziger Besuchstourist erkannte. Er sah sie lediglich als unauffälliges altes Weiblein, ohne die große Seele in ihr zu erahnen.
Beinahe andächtig goss sie den puren Saft in ein Glas, als würde sie dabei wortlos ein langes Gebet sprechen. Wahrscheinlich tat sie es sogar. Ein gehäufter Esslöffel voll Zucker kam hinzu. Dann wurde das Glas mit Regenwasser aufgefüllt. Dieses Wasser hatte sie sich aus der großen Betonzisterne an der Moschee von einem grazilen Mädchen, das mich an eine dienende Märchengestalt aus "Tausend und einer Nacht" erinnerte, bringen lassen. Ob es eine Urenkelin von ihr war?
Schnell ward der Glasinhalt umgerührt und somit servierfertig, ein herzhaft erfrischender und äußerst wohlschmeckender Trank: Ein Labsal in dieser tropischen Mittagsglut, unendlich kostbar in diesem Umfeld!

"Trink, Heinz, - du musst viel trinken!" Und das tat ich , aber eher tröpfchenweise, um diesen Genuss recht lange zu verspüren.


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Emanje mit einer Tochter und zwei Enkelkindern auf Himandhoo im Jahre 1992

Emanje machte auf mich einen ausgezehrten Eindruck. Ich fand, dass sie jedes Jahr kleiner und zerbrechlicher wurde. Dabei war sie jünger als ich. Ihr ältester Sohn meinte, dass in ihrem Darm Würmer lebten.Von solchen Schmarotzern wurden ganz viele Insulaner gepeinigt. Grüne Papayablätter hätten sie von dieser Plage befreit, weil das in ihnen enthaltene Papanin das Eiweiß von Kaltblütern zersetzt. Und Darmschmarotzer gehören zu den Kaltblütern. Doch diese Blätter schmecken zugegebenermaßen einfach furchtbar. Man müsste sie täglich essen, weil man sich täglich neu durch offen an den Inselstrand abgelegte Fäkalien infizierte.

Von dieser hilfreichen Notwendigkeit konnte ich so gut wie keinen Malediver überzeugen. Die mikroskopisch winzigen Eier der Darmschmarotzer wurden von Fliegen, an deren Saugfüßchen allerlei Keime und diese Eier von den Stühlen der Eingeborenen haften blieben, an die süßen Teespuren der Gläser geheftet und von den Lippen der Trinkenden aufgenommen. Wer getreu den Anweisungen des Propheten sein Geschäft in eine gescharrte Vertiefung im Sand verrichtete und es danach gehorsam mit Sand bedeckte, müsste eigentlich längst bemerkt haben, dass die allgegenwärtigen Krabben den Kot sehr bald freiwühlen, um davon zu naschen. Hühner und Fliegen tun das gleiche. Dabei wäre es so einfach, sein eigenes Häuflein per selbstgemachter Schaufel aus einer Kokosnussschale ins strömungsreiche Meer zu befördern. Hygienischer geht`s nicht.

Nun ja, diese Zusammenhänge begriff auch Emanje nicht. Und obwohl sie mit der lokalen Medizin sehr gut vertraut war, nahm sie aber meine mitgebrachte Medizin eigentlich recht gern. Das waren jedoch zumeist nur wohlschmeckende Multivitaminpräparate.

Emanje hatte mich tatsächlich einmal mittels ihrer lokalen Medizin von einer ganz schweren Sepsis ohne zu schneiden geheilt. Dass diese Krankheit dennoch um Haaresbreite für mich tödlich ausgehen wollte, war nicht ihrer lokalen Heilkunst, sondern meiner europäischen Besserwisserei zuzuschreiben. Ich hatte ihre Anordnung, noch drei Tage liegen zu bleiben, nicht befolgt, weil ich das übertrieben fand.
Noch heute erinnere ich mich voller Bewunderung an ihre einfühlsamen Hände, die mein hyperempfindliches, bis zum Platzen angeschwollenes Bein schmerzlos einbalsamierten, als hätten meine Nervenfasern in Bewunderung dieser Hände ihre Aufgaben und Fähigkeiten vergessen. Der selbstgemixte Brei aus Korallenkalk, Zitronensaft und einer pulverisierten Baumrinde, bewirkte, dass sich tatsächlich die Schwellung zurückbildete. Und als ich zu früh aufstand und wieder senkrecht herumlief, kam sie schreckensbleich angerannt: "Heinzo, nein, nein! Jetzt musst du sterben. Warum hast du nicht auf mich gehört? Jetzt kann dir niemand mehr helfen!"
Im ersten Moment lachte ich innerlich über ihre übertriebene Sorge und düstere Prophezeiung. Doch schon nach ca. einer Stunde schwoll das Bein sehr schnell wieder an, viel schmerzhafter als vorher. Meine Körpertemperatur überkletterte sofort die 40 Grad. Ich fühlte mich krank. Mir schwindelte. Einige Fischer fuhren mich mit ihrem Dhoni auf die Hotelinsel Ellaidhoo, wo ein deutscher Arzt wirkte. Der schnitt in Ermangelung narkotischer Medikamente ohne Betäubung in mein übersensibles Bein, um giftige Flüssigkeit abzuleiten. Vergebens. Ohne die Hilfe der damaligen Swiss-Air-Ambulance und Antibiotikabomben wäre ich an Ort und Stelle noch in dieser Nacht qualvoll gestorben.

Es war ein Jahr später. Die Fischer von Himandhoo hatten mich gesucht und gefunden. Ich übernachtete mit meinem Katamaran auf einer unbewohnten Insel in der Nähe Himandhoos.

- "Heinz, du musst sofort kommen! Emanje muss sterben."
- "Was ist denn geschehen? Warum?"
- "Sie hat sich eine Koralle tief in den Fuß getreten. Nun ist der Fuß dick und schmerzt sehr. Komm, schnell!"
- "Warum fahrt ihr sie nicht nach Male ins Hospital?"
- "Da will sie nicht hin. Die schneiden gleich ohne Betäubung den Fuß auf."

Ja, der Fuß sah schlimm aus. Die fast fingerdicke Spitze einer Geweihkoralle steckte tief drin und war abgebrochen, war mit den Händen nicht zu greifen.
Wie war es dazu gekommen?
Emanje war am Strand springenden Muschimassschwärmen, einer Sardinenart, nachgerannt, die von jagenden Makrelen bis auf den Sandstrand gescheucht wurden. Wenn man schnell genug zugriff, konnte man sie einsammeln bevor die Fischchen sich ins nasse Element zurückgezappelt hatten, und man hatte somit seine kostenlose Eiweißration für diesen Tag. In ihrer Hast musste sie die aus dem nassen Sand herausragende weiße Spitze einer Geweihkoralle übersehen haben, die ja unter sich noch mehrere Verästelungen hatte. Diese bildeten im nassen Sand eine breite Auflage und Verankerung und waren für die herausragende Spitze ein festes Fundament. In diese harte Spitze war sie voller Wucht reingetreten. Die Spitze brach ab und blieb in ihrem Fuß stecken. Vor Schmerz fiel sie in sich zusammen und wurde von Dorfbewohnern in ihre Hütte getragen.

Abubakre besaß keine starke Pinzette, auch zum Glück für Emanje kein Skalpell. Ich traf ihn an der Hütte der Verunglückten ziemlich hilflos an. Eilfertigst machte er mir Platz. Mein Eintreffen erschien ihm wie seine Erlösung, denn viel Volk hatte sich versammelt. Alle schauten jetzt erwartungsvoll nun nicht mehr auf ihn, sondern auf mich. Meine Medikamente waren aufgebraucht. Was hätten die denn auch bewirken können? Höchstens Schmerzmittel. Die hatte ich nicht mehr.

- "Bringt mir schnell eine Kanne voll gekochtem Tee und ein Stück Kernseife!"

Ich musste schnell handeln, damit es nicht zur Blutvergiftung kam. Emanje stöhnte leise vor Schmerzen. Ich griff zu meiner Pinzette und bekam nach mehrmaligem Ansetzen gottlob die Korallenspitze ganz heraus. Das tiefe Loch im Fleisch des Fußes unter dem Spann blutete kaum. Das bereitete mir Sorge. Der Tee kam. Zum Glück nicht mehr ganz so heiß. Das Stück Kernseife folgte aus einer anderen Richtung. Eine Seifenlauge war schnell hergestellt, in der Emanje nun ihren Fuß baden musste, was zugleich die offene Wunde desinfizierte.

Ich gab Anweisung, mehr Trinkwasser abzukochen und herzubringen, damit dieses Fußbad stundenlang fortgesetzt werden konnte. Die Durchführung übernahmen nun ihre Töchter und Söhne. Ich konnte nicht mehr tun. Antibiotika, Desinfektionslösungen, vor allem Fibralon-Gel hätte ich jetzt gut gebrauchen können, wäre mir dann des Heilerfolges sicherer gewesen.

Am nächsten Vormittag saß meine Patientin vom Vortage schon wieder vor ihrer Hütte, den kranken Fuß auf meine Empfehlung hin hochgelegt, und ich bekam wieder meinen Limonensaft. Diesmal wurde er mir angereicht von dem freundlichen grazilen Mädchen, das sie mit Alma anredete. Emanje war nun schmerz- und fieberfrei. Es ging ihr wieder gut. Die Wunde sah sehr sauber aus, war am Rande trocken. Man konnte erahnen, dass der schnellen Verheilung nichts im Wege stehen würde, wenn keine Verunreinigung mehr eintritt.

Im darauf folgenden Jahr traf ich Emanje sehr verändert an. Sie war fast durchsichtig. Hatten sie die Würmer aufgefressen oder war es die Schwindsucht? Ich horchte ihre Lunge ab. Die Atemluft schien sich durch die Bronchien zu quälen. Frei war ihre Lunge jedenfalls nicht. Meine war es, und die hörte sich anders an. Ich hinterließ für sie alle Vitamine und Spurenelemente, die ich noch bei mir hatte, streichelte ihr übers Haar, bedankte mich für all ihre liebe Fürsorge und sagte ihr ein Wiedersehen zu, wenn wir von unserem Trip durch die nördlichen Atolle zurück kämen.

Nach fast 3 Wochen lag dieser Tripp hinter uns. Wir liefen zuerst die Metropole Male an, um vor der Überfahrt ins Ari-Atoll vollzutanken. In Male trafen wir einen Fischer aus Himandhoo; der uns berichtete:
- "Emanje antwortet nicht mehr. Sie isst und trinkt auch nicht. Sie wird bald sterben."

Mein Dhonikapitän Hassan bat mich, eine Sperrholzplatte zu kaufen. Ich tat es, fragte nicht, wofür. Am nächsten Vormittag machten wir vor Himandhoo fest. Ich begab mich sofort in Mohamed Saeeds Haus. Er selbst lebte nun im Seenu-Atoll. Aber die von ihm verlasssene Frau Halima war ja eine Tochter Emanjes und bewohnte mit ihren beiden Töchtern und ihrem Schwiegersohn Hassan nun dieses geräumige Haus.


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Reis muss importiert werden, ist sehr billig, aber auch verunreinigt. Halima beim Auslesen des täglichen Reisgerichtes.


Das halbe Dorf war darin versammelt. Ich ahnte Schlimmes. Der Kathib war auch da. Er schaute mich fragend an. In einem Zimmer sah ich Emanje im dunklen Kleid auf einem Tisch liegen. Mir fiel sofort auf, dass man ihr die Hände und Füße mit Tüchern zusammen gebunden und den Unterkiefer mit einem breiten Band an den Wangen vorbei über dem Kopf verknotet festhielt. Alle hier Versammelten sahen mich aus großen traurigen Augen fragend an. Ich ging auf Emanje zu, nahm noch etwas ungläubig ihre verbundenen Arme in meine Hände, um ihren Puls zu fühlen.. Ihre Haut fühlte sich noch warm an. Aber ihr Puls war erloschen. Mich durchfuhr ein Schreck. Ich hatte mit meinen Händen ihren Tod ertastet. Ein einschneidendes Erlebnis! Diese großartige Seele des Dorfes hatte unwiderrufbar aufgehört zu leben.

Ich schaute die hier Versammelten an, die ich ja alle kannte, begegnete den Blicken des Kathibs. Der nickte nur stumm seine Bestätigung. Denn der Kathib eines Dorfes bestimmt, ob ein Bewohner seines Dorfes tot ist oder noch nicht. Seine Entscheidung ist amtlich.


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Die Männer verließen den Raum. Ich auch. Die Frauen mit Halima blieben zurück. Eine große Zinkwanne wurde hereingetragen, voll Brunnenwasser gegossen, Handtücher bereit gelegt und die Tür wurde verschlossen.

Die Tote wurde nun von den Frauen gewaschen und abgetrocknet. Im Flur waren auf einem langen Tisch weiße Tücher ausgebreitet. Ein Nachbarsjunge war dabei, aus einem Watteballen feine Lagen abzuzupfen. Emanje wurde ein wenig später auf diesen Tisch gelegt, zuerst in weiße Watte, darüber in weiße Tücher gehüllt und mit fein geraspeltem, wohlriechenden indischen Rosenholz bestreut und dann in den Sarg gelegt, der aus meiner Sperrholzplatte gefertigt worden war.
In ihrem ganzen Leben wurde sie wahrlich nicht in Watte gepackt!

Mir fiel auf, dass der Sargboden fehlte. Stattdessen hatten die Männer aus dicker Nylonsehne, wie sie beim Haifang verwendet wird, ein Netz als Auflage geflochten, wie bei einem Tennisschläger. Ob das eine symbolische Bewandtnis hatte oder nur aus Mangel an geeignetem Holz geschah, vermag ich nicht zu sagen. Der Deckel wurde lose aufgelegt. Die Tote war nicht mehr anzusehen.
Junge Männer nahmen wortlos den Sarg mit der leichtgewichtigen Emanje auf die Schultern und trugen sie in die alte Moschee am Frauenfriedhof, in der sonst nur Frauen beteten. Das Gefolge bildeten alle Männer des Dorfes. Kein Gesang. Keine lauten Gebete. Die Frauen blieben betend im Haus zurück. Der Sarg verschwand mit dem ganzen Gefolge für einen Moment in der kleinen alten Moschee, die nun erreicht war. Ich blieb draußen, wie es sich für einen Nichtmoslem gehört. Immer noch wortlos kam die Menge nach einer Weile heraus und trug den Sarg zum fertigen Grab, das etwa zwei Meter tief in den reinen feuchten sandigen Grund gegraben war, mindestens so tief, wie der oder die Tote lang gewachsen war. Emanje war über 1,65 Meter nicht hinausgekommen.

Der Sarg wurde hinabgelassen mit starken Leinen, wie bei uns. Der Gräber überprüfte noch einmal den lockeren Sitz des Deckels. Dann fielen die ersten Schaufeln voll Sand auf Emanjes letzte Behausung, die nur für den Übergang bestimmt war. Denn sie wird nach dem Glauben ihrer Dorfbewohner ihrem Sarg und Grab entsteigen und gleich einem Engel überirdisch verklärt im Rosenholzduft und weichem Weiß vor Allah hintreten, der sie gütig aufnehmen und sie nunmehr teilhaben lassen wird an seiner ewigen unvorstellbaren Herrlichkeit.

Im Jahr danach war Emanjes Hütte verschwunden, ihr Grab dicht überwachsen. Nichts deutete darauf hin, dass an dieser Stelle unter dieser Erde der Körper der großen Seele dieses Dorfes ruhte, bis von ihm und meiner Sperrholzplatte nichts mehr übrig ist.